Sozialstaat schleichend in Frage gestellt

Die Sozialwirtschaft ist ein Sektor mit hoher Wertschöpfung und hohem Druck, denn die Finanzierung erfolgt großteils über die öffentliche Hand. Ein Gespräch mit Ruth Simsa, Soziologin an der WU Wien.

KOMPETENZ: Was versteht man unter Sozialwirtschaft?

Ruth Simsa: Das ist die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen im Rahmen von Organisationen. Nachbarschaftshilfe gehört nicht dazu. Ein Großteil der sozialen Dienstleistungen wird von sozialen Non-Profit-Organisationen erbracht, die also nicht gewinnorientiert arbeiten. Was die Arbeit an sich betrifft, ist es ein weites Feld. Die klassischen Bereiche sind Altenpflege, Hauskrankenpflege, Essen auf Rädern. Aber auch Kinderbetreuung, die Arbeit mit Drogenkranken, mit MigrantInnen fallen hier herein.

KOMPETENZ: Handelt es sich dabei ausschließlich um bezahlte Arbeit?

Ruth Simsa: Da ist auch ehrenamtliche Arbeit dabei. Der soziale Standard in Österreich wäre insgesamt ohne Arbeit von Ehrenamtlichen im Rahmen von Non-Profit-Organisationen nicht gesichert. An die acht Millionen Arbeitsstunden pro Woche werden ehrenamtlich geleistet. In Vollzeitäquivalenten wären das 230.000 Stellen beziehungsweise eine um sechs Prozentpunkte höhere Beschäftigung. Allerdings muss man auch sagen: von allen ehrenamtlich Tätigen arbeiten nur etwa sieben Prozent in den sozialen Diensten. Der niedrige Anteil an Ehrenamtlichkeit erklärt sich durch die hohen Professionalisierungsstandards. Wer zum Beispiel in der Hauskrankenpflege arbeitet, muss zuvor entsprechend geschult worden sein.

KOMPETENZ: Wird diese Form der Arbeit auch entsprechend wertgeschätzt?

Ruth Simsa: Die Leute in solchen Organisationen bekommen oft von der Politik das Gefühl vermittelt, hier wird Geld vernichtet. Man möchte die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft versorgt haben – aber es lohnt sich auch aus ökonomischer Sicht, hier zu investieren. Die Sozialwirtschaft ist der Sektor mit der drittstärksten Beschäftigungswirkung.  Wenn ich hier für Nachfrage um eine Million Euro sorge, schaffe ich 17,2 Arbeitsplätze. Das Gleiche in die Energieversorgung investiert, schafft 3,8 Arbeitsplätze.

KOMPETENZ: Und wie sieht es mit der Wertschöpfung aus?

Ruth Simsa: Es wird hier auch Zusatznutzen geschaffen. Wenn die Nachfrage nach Dienstleistungen im Sozialbereich um eine Million Euro erhöht wird, löst das eine Wertschöpfung von 873.600 Euro aus. Das generiert Wirtschaftswachstum in diesem Ausmaß. Die Sozialwirtschaft ist unter den Top 5 Sektoren. Wenn ich die Wirtschaft stimulieren möchte, ist der Sozialbereich nicht der erste, der einem einfällt. Aber von 17 Sektoren ist die Sozialwirtschaft unter den Top 5.

KOMPETENZ: Wie lässt sich der Nutzen der Sozialwirtschaft für die Gesellschaft beschreiben?

Ruth Simsa: Hier werden massive Beiträge für das Alltagsleben der Menschen geleistet. Wenn ich Immigrantin bin und mein Kind wird betreut, es wird mit ihm gelernt, dann nützt mir das. Oder ich habe Eltern, die schon betagt sind, die Pflege brauchen oder Essen auf Rädern. In Österreich gibt es eine Infrastruktur, die all das ermöglicht. Es würde vieles nicht funktionieren, wenn es die Sozialwirtschaft nicht gäbe.

KOMPETENZ: Die Beschäftigten sind hier aber enorm unter Druck.

Ruth Simsa: Das hat mit den generellen gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun. Wir haben schon seit längerem eine Art Krise des Sozialen. Neoliberale Ideologien haben sich in den letzten Jahren zunehmend durchgesetzt, die besagen, der Staat soll sich aus der Wirtschaft zurückziehen und nicht eingreifen – jeder ist seines Glückes Schmied. Das Ergebnis ist eine schleichende Erosion von Solidarität und sozialen Standards.

In Österreich ist zwar der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt nicht gesunken, aber es gab eine Verlagerung von Arbeitsmarkt und Sozialpolitik hin zu Wirtschaftsförderung. Wir haben also einerseits eine Ideologie, die sagt, Staat zieh dich zurück. Und andererseits Makrodaten, die zeigen, der Staat zieht sich nicht zurück. Aber er zieht sich langsam und schrittweise aus der sozialen Absicherung zurück. Das ist die Großwetterlage, die drastisch durch die Finanzkrise verstärkt wird. Die öffentlichen Haushalte sind massiv unter Druck geraten. Und was fällt einem da als erstes ein? Beim Sozialen zu sparen.

Wir haben keine allgemeinen validen Daten, wir wissen also nicht, wieviel da gekürzt wird. Wir haben deshalb die Spitzen der Sozialwirtschaft zu einem Dialog eingeladen und gefragt, wie sieht es aus. Der Tenor war: es werden mehr Leistungen verlangt für weniger Geld. Große, etablierte Organisationen spüren es weniger als die kleinen. Und viele Kürzungen finden an den Rändern oder eher unbemerkt statt. Da gibt es zum Beispiel keine Valorisierungen. Oder ein Hospiz sagt zwar, dass sie nach wie vor die vereinbarten Beträge pro Person bezahlt bekommen. Aber der Bedarf nach Hospizplätzen steigt, das Angebot wird jedoch nicht ausgeweitet. Das Risiko wird individualisiert. Manchmal werden Gelder auch vollkommen willkürlich und kurzfristig gestrichen.

KOMPETENZ: Wird der Sozialstaat zurückgedrängt?

Ruth Simsa: Das ist zu hart. Ich würde eher sagen, dass der Sozialstaat erodiert, er wird schleichend in Frage gestellt. Und wir haben eine sich verschärfende Kluft zwischen arm und reich. Wir haben eine steigende Arbeitslosigkeit und auch aus diesem Grund auch einen wachsenden Bedarf an sozialen Leistungen, die insgesamt nicht in Relation zum wachsenden Bedarf ausgeweitet werden.  Mir macht das Sorge. Das Erfolgsmodell der ganzen Nachkriegszeit war: höhere Bildung und hohe soziale Standards. Und das wird gerade in Frage gestellt.

KOMPETENZ: Welche Gegenstrategie schlagen Sie vor?

Ruth Simsa: Ein klares Bekenntnis zu einem starken Sozialstaat, kombiniert mit einer klugen, offensiven Umverteilungspolitik. Und es bedarf einer ebenso offensiven Bildungspolitik.

Ruth Simsa ist Professorin für Soziologie an der Writschaftsuniversität Wien, ihr Spezialgebiet sind Non-Profit-Organisationen.

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