„Allein kann man keine Probleme lösen.“

ROLAND ATZMÜLLER ist Assistenzprofessor an der Johannes-Kepler-Universität Linz in der Abteilung für theoretische Soziologie und Sozialanalysen. Foto: Nurith Wagner-Strauss
ROLAND ATZMÜLLER ist Assistenzprofessor an der Johannes-Kepler-Universität Linz in der Abteilung für theoretische Soziologie und Sozialanalysen. Foto: Nurith Wagner-Strauss

Der Soziologe Roland Atzmüller spricht im KOMPETENZ INTERVIEW über aktuelle Fehlentwicklungen in der EU und was sich seiner Meinung nach ändern müsste.

KOMPETENZ: Was läuft derzeit falsch in der EU?

Roland Atzmüller: Die EU ist geprägt von einer hauptsächlich marktorientierten Integrationsweise. Steuer- oder Sozialpolitik bleiben nationale Verantwortung und sind einem Wettbewerb nach unten ausgesetzt. Der Fokus der Wirtschafts- und Fiskalpolitik liegt auf dem Abbau von Budgetdefiziten, der Kontrolle der Verschuldung und der Inflation. Die Konstruktion des Euros schränkt die wirtschaftspolitischen Spielräume der Staaten ein. Vor dem Euro konnten Staaten Wirtschaftskrisen durch Währungsabwertung auffangen. Nun muss dies auf eine sogenannte innere Abwertung verlagert werden, also auf die Senkung der Löhne und der Sozialausgaben. Das war meiner Meinung durchaus intendiert bei der Einführung des Euros: Letztendlich hat der wirtschaftspolitische Rahmen der EU den Effekt, dass sich nicht die Lebens- und Wirtschaftsbedingungen angeglichen haben, sondern die Ungleichheit zwischen und in den Mitgliedsstaaten vertieft wurde.

KOMPETENZ: Welche Konsequenz hat diese Politik?

Roland Atzmüller: Man kann dies sehr gut an der Austeritätspolitik sehen. Diese führt zu einer Zerstörung von Gesellschaftlichkeit, da Arbeitslosigkeit und Armut ansteigen, Leute ihre Krankenversicherung verlieren, ArbeitnehmerInnenrechte eingeschränkt werden usw., wie man etwa in den Ländern des europäischen Südens feststellen kann. Diese Politik ist selbstdestruktiv und wird die „europäische Idee“ zerstören. Die kann nur funktionieren, wenn sie politisch und sozial grundlegend anders als jetzt gestaltet wird. Eine Rückkehr zum Nationalstaat ist darauf aber keine Antwort, weil auch Kapitalismus nicht mehr national begrenzt ist. Die globalen ökonomischen Dominanzverhältnisse bewirken massive soziale Krisen, die internationale Solidarität bräuchten. Auch die ökologische Krise wird durch nationale Grenzen nicht aufgehalten. Man muss für eine radikale, demokratische und soziale Reform der EU eintreten, oder die selbstdestruktiven Tendenzen werden zunehmen.

KOMPETENZ: Kann der Brexit dabei etwas ändern?

Roland Atzmüller: Die marktzentrierte Integrationsstrategie der EU muss grundlegend verändert werden. Ich denke aber nicht, dass die Brexit-Verhandlungen dazu führen. Die Brexit-Abstimmung war nicht zuletzt auf die Personenfreizügigkeit konzentriert, die die Rechtspopulisten als Ursache sozialer und Arbeitsmarktprobleme darstellen. Man kann die großen sozioökonomischen und sozialen Unterschiede innerhalb der EU, von der aber die mächtigen EU-Staaten durchaus profitieren, nicht bewältigen, indem man Mauern um Wohlstandsinseln baut.

KOMPETENZ: Rechte Parteien haben ihre eigenen Rezepte …

Roland Atzmüller: Der Rechtspopulismus wird die selbstdestruktiven Tendenzen der EU verstärken. Die Nationalisten aktualisieren rassistische Ressentiments – so etwa zwischen den Industriestaaten im nördlichen Europa und den angeblich „faulen“ Südländern. Das hat man bei der Kampagne gegen Griechenland gesehen. Daneben werden rassistische Ressentiments gegen MigrantInnen und Flüchtlinge geschürt. Dabei wird bewusst ausgeblendet, dass Fluchtbewegungen auch aufgrund der globalen Auswirkungen der Wirtschaftspolitik der EU-Staaten entstehen, da Menschen in ihrer Heimat ihre Lebensgrundlagen verlieren.

KOMPETENZ: Wenn Rechtspopulisten in der Regierung sind, sind diese arbeitnehmerInnenfreundlich?

Roland Atzmüller: Nein. Beispielsweise hat die derzeitige finnische Regierungskoalition, an der die dortige Variante einer „sozialen Heimatpartei“, die „wahren Finnen“, beteiligt ist, kürzlich ein umfangreiches sozialpolitisches Kürzungsprogramm beschlossen, das v. a. die Ärmsten und Frauen trifft.

KOMPETENZ: Was können Gewerkschaften für ein besseres Europa tun?

Roland Atzmüller: Gewerkschaftliche Politik kann sich nicht auf Nationalstaaten beschränken. Derzeit gibt es aber keine adäquaten Formen transnational oder europaweit koordinierter Gewerkschaftspolitik. Längerfristig müsste darauf abgezielt werden, dass gewerkschaftliche Organisationsmacht entsteht, die über den Nationalstaat hinausgeht. Aber auch innerstaatlich muss es eine höhere Kampfbereitschaft der Gewerkschaften geben. Dies ist notwendig, um den sozialen Zusammenhalt zu sichern. Neben dem Kampf um höhere Löhne geht es auch um andere Fragen wie etwa Arbeitszeitverkürzung.

KOMPETENZ: Heute sind die Gewerkschaften mit großen Herausforderungen konfrontiert …

Roland Atzmüller: Die klassische Solidarität früherer Jahre funktioniert nicht mehr. Ihre historische Gestalt war quasi der männliche weiße Industriearbeiter in der blauen Kluft, der körperlich hart arbeitet und sich dabei schmutzig macht. Heute hat sich die Arbeitswelt ausdifferenziert. Es gibt eine Feminisierung der Arbeitswelt und viele multi-ethnische Belegschaften, prekäre und atypische Jobs haben zugenommen, ebenso Dienstleistungsarbeit. Die zentrale Frage ist: Wie kann man diese Leute gewerkschaftlich mobilisieren und neue Formen der Solidarität entwickeln? Das erfordert neue Interessen wahrzunehmen. Es geht auch darum, „neue“ Bereiche für die ArbeitnehmerInnenpolitik zu besetzen, die über Fragen der Beschäftigung hinausgehen. Arbeitszeit bspw. ist ein Thema, das auch Fragen von Vereinbarkeit und Geschlechterverhältnissen berührt. Auch braucht es einen Ausbau der innergewerkschaftlichen Demokratie, um die Mitglieder stärker zu aktivieren. Die Menschen haben heute ein anderes Verständnis von Teilhabe und Mitbestimmung, da wird es irgendwann nicht mehr reichen, dass die Funktionäre sagen, was gemacht werden soll. Es ist auch notwendig, dass die Beschäftigten erkennen, dass die Gewerkschaft nur so stark ist wie ihre Mitglieder bereit sind für Interessen zu kämpfen, und nicht sagen, aber die Gewerkschaft soll machen.

KOMPETENZ: Was gibt Hoffnung?

Roland Atzmüller: Man hat gesehen, dass das Zurückweichen gegen die neoliberalen Angriffe auf die sozialen Sicherungssysteme, die Krise vertieft. Doch es zeigt sich auch, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung wieder bereit ist, sich für kapitalismuskritische Alternativen zu engagieren, wie etwa in Spanien, Griechenland, USA oder auch GB.     

Zur Person

ROLAND ATZMÜLLER ist Assistenzprofessor an der Johannes-Kepler-Universität Linz in der Abteilung für theoretische Soziologie und Sozialanalysen.

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